So ein Tag kann ja schnell vergehen. Aber das weiß ich natürlich noch nicht als ich um 7:00 gemütlich aufstehe. Ja, ich habe geschlafen wie ein Stein. Die lange Fahrt gestern hat mich angestrengt. Was ich auch noch nicht ahne: der ungeplante zusätzliche Tag in Tallin wird die Strapazen des gestrigen Tages mehr als aufwiegen. Aber erstmal frühstücken. Gaaaanz gemütlich. Vier Tassen Ostfriesentee schlürfe ich und lese noch ein wenig in einer Motorradzeitschrift. Da fährt eine junge Frau mit einem "Eintopf" quer durch Russland. Fast ohne Plan, nur mit ein paar gesteckten Eckpunkten. Auf wen sie dabei trifft und was sie erlebt, ist beeindruckend und berührend. Auch ich habe ja durchaus viele sympathische Begegnungen auf meiner Reise. Aber nie sind sie so intensiv wie in diesem Reisebericht. Habe ich zu viel geplant? Bin ich zu unflexibel? Ist die Gesprächsaufnahme als Mann schwieriger? Bin ich nicht extrovertiert genug? Zu wenig mutig? Vielleicht. Ich bin wie ich bin. Und auch so nehme ich so unendlich viele kleine und etwas größere Begegnungen dankbar in meine Erinnerungen auf. Sei es auch nur die Frau neulich an der Kasse, irgendwo in einem kleinen Dorf, die mich so offen anstrahlt und mir auch ohne eine gemeinsame Sprache zu verstehen gibt, wie sie sich freut, dass ich ihr Land bereise und ihrem kleinen Laden einkaufe. Alles mache ich vielleicht nicht verkehrt ;)
Eine letzte Tasse Tee, den Abwasch erledigt, nun ist es Zeit für die Dusche. Um diversen Haarwuchs muss ich mich auch mal wieder kümmern. Inzwischen ist es 10:30. Fast alle anderen Gäste sind längst unterwegs. Oder holen nächtlich versäumten Schlaf nach. So stört es niemanden, dass ich eines der wenigen Bäder im Haus für mehr als eine halbe Stunde blockiere. Sauber und ordentlich frisiert :) kann ich mich nun an die Archivierung der gestern gemachten Fotos und Filme machen. Danach, es ist bereits 13:30, ist es Zeit fürs Mittagessen. Ich habe ja noch die Sachen, die eigentlich für gestern Abend bestimmt gewesen waren. Es gibt also Nudeln mit Paprika und Mais. Nicht sehr einfallsreich, aber definitiv preiswerter als wieder in der Stadt zu essen.
Gabi ist mittlerweile auf hoher See. Alleweil schickt sie Bilder. Vom Sonnendeck. Von sich selbst auf dem Sonnendeck. Aber vor allem vom Essen. Hoffentlich passt sie morgen noch in ihre Motorradhose :))
Jetzt will ich aber endlich in die Altstadt. Erster Anlaufpunkt ist die Olaikirche. Sie liegt ohnehin auf dem Weg vom Hostel in die Stadt. Bevor ich die Kirche erreiche, fällt mir noch ein Polizeiwagen auf. Ja, so kann man das auch schreiben :)
Die Olaikirche ist die Hauptkirche Tallins. Von außen recht imposant, von innen eher schlicht. Berühmt ist sie für die vielen Terrakotta-Skulpturen in ihrer Fassade. Ich mache nur wenige Fotos. Hier ist irre viel Trubel.
Ziel- und planlos erkunde ich die Altstadt und bin überrascht, wie viele Kirchen auf engem Raum das Bild der Stadt prägen. Die Atmosphäre ist schon berauschend. Historische Gebäude umrahmt von modernem prallen Leben.
Mitten im Zentrum der Altstadt finde ich die Heilig-Geist-Kirche. Selbstverständlich muss ich auch hier Eintritt bezahlen, und das Fotografieren kostet extra. Ob der Mann, der nicht nur die Kasse, sondern auch einen kleinen Büchershop verwaltet, mir etwas über die Gemeinde erzählen kann. Meine Frage erntet einen irritierten Blick und den schmerzlich schroffen Verweis auf die Aushänge, die doch alles zur Kirche erklären. Touristen geht das Gemeindeleben wohl nichts an? Immerhin: in dieser Kirche gibt es tatsächlich jeden Sonntag einen Gottesdienst.
Ich schaue mir in Ruhe die Kirche an und mache ein paar Fotos. Dem Aushang entnehme ich, dass diese Kirche vor allem für ihren Altar aus dem 15. Jahrhundert bekannt ist. Den sogenannten Schrankaltar, ein Triptychon mit Doppelflügeln hat der Lübecker Bernd Notke 1483 gebaut. Die Malereien und farbigen Holzsplastiken zeigen unter Anderem die Ausgießung des Heiligen Geistes.
Ich schlendere weiter. Gefühlt die Hälfte aller möglichen kleinen Gassen in der verwinkelten Altstadt erkunde ich so. Ich lasse mich treiben.
Am Rande der Altstadt komme ich auf einen großen Platz. Linker Hand schon wieder eine Kirche. Die Jaani Kirik, also Johanniskirche. Auch sie hat ihre Türen geöffnet. Und der Eintritt ist sogar frei. Ich nutze die Gelegenheit für einen Moment der Stille und ein Dankgebet. Bis die Stille sanft unterbrochen wird. Ein Chor füllt den Altarraum und beginnt mit seiner Probe.
Es proben noch zwei andere Chöre für ein Konzert heute Abend. Ob ich da hingehe? Nee, ich muss noch packen, Abendessen, Fotos und Filme archivieren, ...
Draußen tobt derweil das Leben. Das große estnische Sängerfestival beginnt. Für ein langes Wochenende treffen sich estnische Chöre und Ensembles aus dem In- und Ausland. Das erste Sängertreffen fand übrigens 1880 statt, wie ich einer der vielen Schautafeln entnehme, die draußen über die Geschichte dieses Ereignisses berichten. Überall in der Stadt klingt jetzt Musik. An Häuserecken, in Vorgärten, auf kleinen Plätzen singen und musizieren Folklore-Chöre, Blues-Kapellen, Streicherquartetts und viele Andere. Eine tolle Stimmung. Ich könnte stundenlang zuhören. Aber ich muss ja sehen, dass ich noch etwas zu essen bekomme. In einem kleinen Supermarkt kaufe ich etwas Brot, einen Heringssalat und einen Käse und kehre um 17:30 mit meiner Beute zurück ins Hostel. Um 18:00 beginnt das Konzert in der Jaani Kirik. Aber ich muss ja noch packen. Bin ich eigentlich blöd? Ich lege meinen Einkauf in den Kühlschrank im common-room und eile zurück in die Altstadt. Die Johanniskirche ist gut gefüllt, aber noch lange nicht bis auf den letzten Platz. Der Piedmont Lastekoor unter Leitung von Maestro Robert Geary, der Eesti Televisiooni Tütarlastekoor und der ETV Laste- ja Mudilaskoor geben ein beeindruckendes Programm. Lediglich ein fast 15 minütiges Stück trübt meine Stimmung. Sicher sehr anspruchsvoll zu singen. Ist das experimentelle Musik? Klingt wie früher der Gesang meiner Mutter und meiner Schwester. Die konnten zu zweit dreieinhalbstimmig singen und gleichzeitig in zwei verschiedenen Tonarten. :)) Sorry, nicht meins. Alle anderen Stücke finde ich sehr ergreifend. Wie gut, dass ich schon gestern in Tallin angekommen bin. Oder hatte ich das schon erwähnt? ;)
Um 20:00 bin ich zurück im Hostel. An der Rezeption steht ein sichtlich verzweifelter Motorradfahrer. Es gibt keinen Parkplatz mehr vor dem Haus und er weiß nun nicht wohin mit seinem Motorrad. Ich biete ihm an, meinen Parkplatz zu nehmen, wenn ich meine Maschine hinter seine stellen darf. Ich muss ja eh morgen schon ganz früh los. Sebastian aus Schweden, wie ich eine halbe Stunde später erfahre, ist sichtlich erleichtert.
Auch wenn ich morgen um 6:30 an der Fähre sein muss, ich lasse mir Zeit für Abendessen und Packen und für die restliche Routine. Werde sowieso viel zu nervös sein um zu schlafen. Immerhin sehe ich morgen Gabi wieder und wir werden die Reise gemeinsam fortsetzen. Die genießt übrigens das Lotterleben auf der Fähre, schwärmt ständig von diversen Buffets und ....
... trinkt Ouzu mit ihrer Zimmergenossin. Wenn das mal gut geht!
Dem Maddin sein Spruch des Tages:
"Musik ist ein reines Geschenk und eine Gabe Gottes, sie vertreibt den Teufel, sie macht die Leute fröhlich und man vergisst über sie alle Laster."
Ausgaben:
Eintritt €1,50
Sonstiges €4,36
Lebensmittel €4,08
Gesamt des Tages: €9,94
Gesamt der Reise: €1179,39
Olaikirche Tallin
Von dieser Kirche ging 1524 in Tallin die Reformation aus. Sie hat 31m hohe Gewölbe. Das ist so hoch wie meine Sandhorster Kirche lang ist.
Kirchenkaplan Zacharias Hasse hielt hier 1523 die ersten evangelischen Predigten.