Dienstag, 02.07.2019                                                                 der vierzehnte tag

Es tröpfelt als ich aufstehe. Da der Wind immer noch ordentlich weht, verschwinden die Wolken aber schnell. Das Zelt trocknet so weit, dass ich es einpacken kann. Wieder mal Glück gehabt. Gabi schickt erste Fotos von ihrer Reiseroute und dem gepackten Motorrad. Sie wird gleich starten. Für die Fahrt von Aurich nach Travemünde hat sie sich den ganzen Tag Zeit genommen.

Die Etappe soll kurz werden. Kurz hinter Tartu am Peipussee habe ich einen Campingplatz im Internet ausgeguckt. Bei dem unsicheren Wetter bin ich ganz froh darüber. Noch!

Zu Hause habe ich im Routenplaner eine kleine Holzfähre entdeckt. Die liegt zwar nicht ganz auf meinem Weg, aber ich bin neugierig. Also fahre ich einen kleinen Umweg. Und damit beginnt das erste Abenteuer des Tages; leider nicht fotografisch, sondern nur filmisch dokumentiert (ossi on tour auf youtube). Kaum habe ich den Campingplatz verlassen, schickt mich mein Navi wieder auf eine dieser Schotterwege geringer Güte. Aber mittlerweile schreckt mich das nicht mehr ganz so sehr ;) Kurz vor der Fähre wird aus Schotter fast reiner Sand und dann macht der Weg eine Kehre nach rechts und führt gefühlte 45° bergab zum Anleger. Ich nehme allen Mut zusammen und fahre mit dem coolsten Gesichtsausdruck, den ich hinkriege, bergab und über die wackelige Rampe auf die Fähre. Ein Auto mit ein paar Männern und der Fährmann schauen interessiert zu. Oder amüsiert? Der Fährmann gibt mir ein Ticket in die Hand auf dem was von fünf Euro steht. Für zwei Meter Flussbreite ein stolzer Preis. Ob der wohl auch für die Einheimischen gilt? Und oje: ich habe mich so an das Zahlen mit der Kreditkarte gewöhnt, dass ich gar nicht daran gedacht habe, irgendwo Bargeld abzuheben. Also frage ich mit meiner immer noch mühsam aufrecht gehaltenen Coolness nach der Bezahlung mit der Kreditkarte - und zeige dem Mann meine Geldbörse, die vielleicht €1,50 in bar hergibt. Der Fährmann nimmt das Ticket wortlos wieder an sich und legt ab. Peinlich. Tut mir echt leid. Etwas beschämt fahre ich weiter nach Valmiera.

Die evangelische Kirche in Valmiera ist sogar geöffnet. Ebenso wie später die Kirche in Tartu. So kann ich für einen Moment dem Regen entfliehen und etwas zur Ruhe kommen. Zeit für ein Gebet. Außer mir und einem Touristenpaar ist niemand hier.

Ich fahre weiter - trotz Regen. Macht nicht wirklich Spaß. Und dann "darf" ich schon wieder eine Gravel-Road fahren. Ungefähr in der Mitte zwischen Valmiera und Tartu passiere ich die Grenze nach Estland. Auch wenn andere schneller unterwegs sind, ich bin erstaunt, wie viel Strecke ich schon gemacht habe. Was für ein Urlaub. Zwischendurch schickt Gabi ein paar Bilder von ihren Pausen. Inzwischen ist sie schon im Hafen angekommen. Bald geht es auf die Fähre.

Als ich in Tartu ankomme, scheint sogar mal ein wenig die Sonne. Noch ahne ich nicht, dass der Regen nur eine kurze Pause macht um später umso heftiger wieder loszulegen. Ich besichtige die Jaani Kirik. Ein interessantes Gebäude. Leider gibt es hier viel mehr Touris als in Valmiera. Die Kirche ist mehr Museum und die Besichtigung kostet natürlich Eintritt.

Im Internet habe ich mir für die Nacht einen Campingplatz herausgesucht, der einen ganz guten Eindruck macht. Wie man sich täuschen kann! Ich komme auf einen völlig vermatschten Hof. Habe ich schon erzählt, dass es zwischendurch ordentlich geregnet hat? Das sieht hier mehr aus wie ein völlig heruntergekommenes Gehöft. Keine Rezeption, kein Zelt. Nur Modder! Hier will ich nicht bleiben. Vorhin habe ich einen Wegweiser zu einem Hostel gesehen. Ein paar Kilometer zurück. 1,4km soll das Hostel von der Hauptstraße entfernt sein. Ich biege ab, folge der Straße und komme an eine T-Kreuzung. Rechts oder links? Wegweiser? Fehlanzeige. Es regnet wieder. Mit Google-Maps finde ich schließlich das Hostel. Die etwas mürrische Besitzerin erklärt mir, sie sei völlig ausgebucht. Dafür sieht es hier erstaunlich leer aus. Sie schickt mich zu einem anderen Hostel in der Nähe. Ich fahre los und stelle fest: die Adresse gibt es gar nicht. Haben die Leute hier etwas gegen Fremde? Es regnet immer mehr und ich habe absolut keine Lust, jetzt noch irgendwo mein Zelt aufzuschlagen. Also tue ich, was ich eigentlich nicht mehr tun wollte: ich gebe das Hostel in Tallin ins Navi ein. Laut Berechnung soll ich um 20:00 dort sein. So genervt wie ich bin, schimpfe ich wild in meinen Helm, verfahre mich ein paar Mal, was die Stimmung zunehmend dem Wetter angleicht. Dafür bin ich eine halbe Stunde früher in Tallin als berechnet. Ein Dank an meinen Schutzengel. Gut gemacht!

Ob sie wohl ein Bett für mich haben? Ich habe ja erst ab morgen gebucht. Haben sie. Sogar in dem Zimmer, in dem ich ohnehin für morgen gebucht bin. Wie praktisch. Ich beziehe ein freies der sechs Betten in dem Zimmer. Jetzt würde ich gerne noch schnell etwas kochen. Aber vier Kochstellen für ein so großes Hostel sind nicht wirklich viel. In der Gemeinschaftsküche herrscht ordentlich Trubel. So beschließe ich, in die Altstadt zu gehen und nach etwas Bezahlbarem zu essen zu suchen. Auch nicht einfach in einer Hauptstadt, die anderen europäischen Hauptstädten in nichts nachsteht. Vor allem nicht bei der Dichte der Restaurants und der Preise. Letztendlich gibt es baked potatoes mit sour cream. Sieht toll aus, ist lecker und kostet "nur" acht Euro. Wie nett, dass es dazu noch zwei Scheiben selbst gebackenen Brotes mit Butter und Salz gibt. So bekomme ich eine Ahnung von Sattsein. :)

Zurück im Hostel schreibe ich im "common-room" noch mein Tagebuch. Die Filme und Fotos müssen bis morgen warten. Noch Zähne putzen und dann ins Bett! Puh!

Dem Maddin sein Spruch des Tages:

"Ich hab's im Sinn - hätt ich's im Beutel!"

Cesis - Tallin                       424km

Ausgaben:

(Torsten)

Camping                                                      €8,-

Tanken                                                          €18,41

Lebensmittel                                              €2,64

Tanken                                                          €20,11

Hostel                                                            €28,-

Essen                                                              €13,-

 

(Gabi)

Fähre Travemünde-Helsinki                 €547,71

Essen, Weserfähre, Tanken                   €44,87

Getränke                                                       €11,-

 

Gesamt des Tages                                     €693,74

 

Gesamt der Reise                                       €1169,45

Die Reformation Estland

Im Jahre 1523 hört Reval (heute Tallin) die ersten evangelischen Predigten.

Dass die Estländer Kontakte zu Luther pflegten, zeigen Luthers Sendschreiben "den auserwählten lieben Freunden, allen Christen zu Riga, Reval und Dorpat (Tartu), die fast zeitgleich erscheinen.

Schon 1524 werden die Dominikaner vertrieben, katholische Gottesdienste verboten und katholische Güter "umorganisiert". Solch perverse Umschreibungen sind wohl keine Erfindung der Neuzeit.

1533 schließen sich der Rat der Stadt und die Gilden der Reformation an (Beschluss in Valmiera), ebenso Riga und Tartu.

Erst im 14. Jahrhundert wurde Estland unter Zwang christianisiert. Nun wird es wegen politischer Ränkespiele evangelisch. Keine wirklich  guten Voraussetzungen für einen tiefgreifenden Glauben in der Bevölkerung. Und die Geschichte bleibt wechselhaft und von politischen Umbrüchen gezeichnet: 1561 unterwirft der schwedische König Tallin. Die Stadt bleibt aber zunächst evangelisch.

1710 wird das Land in das russische Reich eingegliedert, das die orthodoxe Kirche fördert.

1832 erkennt Russland auch die lutherische Kirche an. 1917 gründet sich die Estnisch-Evangelisch-Lutherische Kirche. Heute gehören ca. 160.000 der 1,3 Mill.Einwohner der ev.-luth. Kirche an, davon sind 30.000 zahlende Mitglieder. 166 Gemeinden zählt die Kirche, mit 211 Pfarrern*innen.

 

St. Simeon Kirche Valmiera

1283 wird mit dem Bau der Kirche begonnen. 1554 wird die Kirche lutherisch - und bleibt es bis 1964. Dann wird sie in eine Museum umgewandelt. 1988 wird sie an die Gemeinde zurückgegeben.

 

St. Johanniskirche Tartu

1323 erstmals erwähnt erlitt die Kirche immer wieder Zerstörungen und Umwidmungen. In der Nacht zum 26. August 1944 kam es zu heftigen Kämpfen und die Tartuer Johanniskirche wurde durch das Bombardement in Brand gesetzt. Die Zerstörung war mehr oder wenig endgültig. Als 1952 auch die Nordwand des Mittelschiffs einbrach, blieb nur eine Ruine übrig, die von der  sowjetischen Besatzung als Lagerhalle genutzt wurde. Erst 1989 begann der Wiederaufbau, fast ausschließlich durch Spenden finanziert. 

Es sollte noch bis 1997 dauern, bis die Tartuer Johannisgemeinde der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche offiziell wiedergegründet wurde. Am 29. Juni 2005 wurde die restaurierte Johanniskirche in Anwesenheit des estnischen lutherischen Erzbischofs Andres Põder, des estnischen Staatspräsidenten Arnold Rüütel und des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler feierlich eingeweiht.